{"id":130177,"date":"2020-03-05T14:02:56","date_gmt":"2020-03-05T13:02:56","guid":{"rendered":"https:\/\/clubcomputer.at\/?p=130177"},"modified":"2020-03-05T18:57:18","modified_gmt":"2020-03-05T17:57:18","slug":"wissenschaft-und-blodsinn","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/clubcomputer.at\/2020\/03\/05\/wissenschaft-und-blodsinn\/","title":{"rendered":"Wissenschaft und Bl\u00f6dsinn"},"content":{"rendered":"\n

Nach einem Vortrag von Dr. Florian Aigner<\/strong> am 3.3.2020 bei ClubComputer.<\/em><\/p>\n\n\n\n


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Wir leben in einer Welt voller \u00c4ngste vor Dingen, die es gar nicht gibt und wenn es sie gibt, dann nicht in der postulierten Gef\u00e4hrlichkeit. Unsere Welt ist durchaus rational, erf\u00fcllt mit Wissen aber auch gleichzeitig erf\u00fcllt mit viel Bl\u00f6dsinn.<\/p>\n\n\n\n

Bauchgef\u00fchl kontra Wissenschaft<\/h2>\n\n\n\n

Ein Bauchgef\u00fchl hat jeder, und das ist auch sehr wichtig, denn es ist eine F\u00e4higkeit, mit der uns die Evolution ausgestattet hat und die uns erlaubt, rasche Entscheidungen zu treffen, auch dann, wenn man zur Fragestellung nur sehr wenige Informationen hat. <\/p>\n\n\n\n

Welche Stadt hat mehr Einwohner, Miami oder Tampa? <\/p>\n\n\n\n

Europ\u00e4er tippen mehrheitliche auf „Miami“, weil diese Stadt hier sehr bekannt ist – und die Antwort stimmt auch. Stellt man aber dieselbe Frage in den USA, bekommt sind die Menschen keineswegs so sicher, nicht weil sie weniger Informationen haben, sondern im Gegenteil, weil sie mehr \u00fcber diese St\u00e4dte wissen. Amerikaner kennen beide St\u00e4dte und wissen, dass Tampa eine durchaus vergleichbare Gr\u00f6\u00dfe zu Miami hat.<\/p>\n\n\n\n

Noch weniger hilft uns das Bauchgef\u00fchl bei der Frage, ob San Francisco oder Shijazhuang gr\u00f6\u00dfer ist. Wir sind \u00fcberrascht, dass das weltber\u00fchmte San Francisco relativ klein ist. <\/p>\n\n\n\n

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Sch\u00e4tze, wie gro\u00df eine Stadt ist!<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

Auf eine kollektive und tragische Fehleinsch\u00e4tzung durch das „Sich-auf-das-Bauchgef\u00fchl-Verlassen“ hereingefallen sind jene, die nach dem Terroranschlag 9\/11 vom Flugzeug auf das Auto umgestiegen sind. Es konnte statistisch nachgewiesen werden, dass durch die Zunahme des Stra\u00dfenverkehrs mehr zus\u00e4tzliche Verkehrstote zu beklagen waren als bei den Terroranschl\u00e4gen selbst. <\/p>\n\n\n\n

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Wir sehen eine Spirale aber messt es nach, es sind konzentrische Kreise. So verl\u00e4sst uns das Bauchgef\u00fchl.<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

Menschen haben die M\u00f6glichkeit, kl\u00fcger zu werden als es ihr Bauchgef\u00fchl erlaubt; durch wissenschaftliche Herangehensweise, durch das Sammeln von Fakten, vergleichen, wiederholen. Wir gewinnen durch Wissenschaft Erkenntnisse, allerdings nicht in einer alltagstauglichen Art, denn im Alltag muss man hier und jetzt entscheiden und hat keine Zeit, um eine passende Studie abzuwarten. <\/p>\n\n\n\n

Verl\u00e4ssliche Aussagen<\/h2>\n\n\n\n

Pers\u00f6nliche Wahrnehmungen sind keine ausreichenden Erkenntnisse, was wirklich verl\u00e4sslich ist, sind Mathematik und Logik. <\/p>\n\n\n\n

Ausgangspunkt sind in der Mathematik immer Axiome<\/a>, das sind Grunds\u00e4tze, die nicht weiter begr\u00fcndbar sind. Sehr bekannt sind die Axiome der Euklidschen Geometrie<\/a>, zum Beispiel „ein Punkt ist etwas, das keine Teile hat“<\/em> oder „eine Linie ist eine breitenlose L\u00e4nge“<\/em> usw. Von diesen Axiomen kann man durch logische Beweisf\u00fchrung weitere Aussagen und Beweise ableiten.<\/p>\n\n\n\n

Mathematische Beweise sind solche f\u00fcr die Ewigkeit. Zum Beispiel sagt der Satz von Euklid<\/a>, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Auf diesen Satz werden sich die Menschen auch noch im Jahr 2525 verlassen k\u00f6nnen. <\/p>\n\n\n\n

David Hilbert<\/a> hat postuliert, dass man die gesamte Mathematik auf einfache Grundtatsachen zur\u00fcckf\u00fchren kann, ganz \u00e4hnlich den Axiomen des Euklid und dass man dann eben alles werde beweisen k\u00f6nnen. Wie wir aus der Wissenschaftsgeschichte wissen, ist dieser Wunsch am Unvollst\u00e4ndigkeitssatz<\/a> von Kurt G\u00f6del<\/a> gescheitert, der besagt, dass es in einem (ausreichend komplexen) aber widerspruchsfreien System immer unbeweisbare Aussagen gibt. <\/p>\n\n\n\n

Mathematik kontra Naturwissenschaft<\/h2>\n\n\n\n

Der Wiener Kreis<\/a> versuchte mathematische Pr\u00e4zision auch in anderen Wissenschaften einzuf\u00fchren und man hat bald gesehen, dass das dort nicht genau so funktioniert. Man hat es in der Naturwissenschaft mit Beobachtungen und Messergebnissen zu tun, und alle diese Experimente sind fehlerbehaftet.<\/p>\n\n\n\n

So wie das Vollst\u00e4ndigketisstreben in der Mathematik schien auch die Beweisf\u00fchrung der Naturwissenschaften zu scheitern. <\/p>\n\n\n\n

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Die Hierarchie der Wissenschaften – und die Mathematik<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

Karl Popper<\/a> erkannte, dass (Natur)Wissenschaft – anders als die Mathematik – eigentlich nichts beweisen kann, sondern ihre Aussagen eben so lange gelten als sie nicht widerlegt sind. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass man nur solche Aussagen zul\u00e4sst, die an einem Experiment widerlegt werden k\u00f6nnen. Naturwissenschaft beweist also nichts, sondern h\u00e4lt nur solange an einer Behauptung fest, bis das Gegenteil bewiesen ist.<\/p>\n\n\n\n

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Sir Karl Popper<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

Allerdings setzt diese Falsifizierbarkeit voraus, dass man sich als Wissenschaftler diesen Spielregeln unterwirft. <\/p>\n\n\n\n

Pseudowissenschaften<\/a> sind solche, die in Publikationen formale Regeln wissenschaftlicher Arbeiten anwenden aber innerlich mit Dogmen erf\u00fcllt sind und Kritik als F\u00e4lschung oder Propaganda abweisen.<\/p>\n\n\n\n

Aus der Entwicklung wissenschaftlicher Aussagen wie zum Beispiel von der euklidischen Geometrie zur sph\u00e4rischen Geometrie oder von Newtons Gravitationstheorie zu Einsteins allgemeiner Relativit\u00e4tstheorie sieht man, dass die jeweils \u00e4ltere Theorie in den allermeisten F\u00e4llen weiter verwendet werden kann und die neuere eben eine Erweiterung darstellt.<\/p>\n\n\n\n

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Experimente mit W\u00fcnschelruteng\u00e4ngern<\/h2>\n\n\n\n

Es gibt aber auch pseudowissenschaftlich arbeitende Personen, die sich wissenschaftlichen Experimenten, also einer Falsifikation, stellen. Die GWUP (G<\/strong>esellschaft zur W<\/strong>issenschaftlichen U<\/strong>ntersuchung von P<\/strong>arawissenschaften) vereinbart experimentelle Anordnungen, die von den Probanden akzeptiert werden. Dabei muss der Proband zum Beispiel herausfinden, in welcher von 10 Schachteln ein Gegenstand versteckt ist. Die Trefferquote der W\u00fcnschelruteng\u00e4nger ist aber bei diesen Versuchen nicht h\u00f6her als die erwartbaren Zufallstreffer.<\/p>\n\n\n\n

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\u00dcbersinnliche Behauptungen k\u00f6nnen also mit wissenschaftlichen Experimenten widerlegt werden.<\/p>\n\n\n\n

Wissenschaft als Friedhof der widerlegten Theorien? <\/h2>\n\n\n\n

Wissenschaftliches Arbeiten erfordert die Bereitschaft zur Akzeptanz von Ver\u00e4nderungen als etwas Positives. <\/p>\n\n\n\n

Esoterische Aussagen sind dagegen statisch und oft seit Jahrtausenden unver\u00e4ndert (Tierkreiszeichen). Hahnemanns<\/a> einmal aufgestellten Regeln des Versch\u00fcttelns blieben seit ihrer Erfindung unver\u00e4ndert.<\/p>\n\n\n\n

Ist Wissenschaft auch nur eine Religion?<\/h2>\n\n\n\n

Wissenschaft ist nicht dogmatisch und muss f\u00fcr Ver\u00e4nderungen offen sein. Wissenschaft will etwas aufbauen, auf das man sich verlassen kann. <\/p>\n\n\n\n

[Wenn man der Wissenschaft Religi\u00f6ses andichten will, dann vielleicht den Umstand, dass nicht die Aussagen der Wissenschaft religi\u00f6s dogmatisch sind, denn sie unterliegen dem Wandel des Erkenntnisgewinns, sondern ihre Methodik des Ausscheidens als falsch erkannter Theorien.]<\/em><\/p>\n\n\n\n

Es kann sein, dass man immer bessere Modelle bekommt. Ber\u00fchmtestes Beispiel: Newton konnte Planetenbahnen vorausberechnen und man dachte, dass diese Ergebnisse f\u00fcr alle Zeiten gelten w\u00fcrden. Doch Albert Einstein hat die Berechnungen Newtons durch die Allgemeine Relativit\u00e4tstheorie „relativiert“, weil er die Gravitation nicht als Kraft definiert, sondern als eine Raum-Zeit-Kr\u00fcmmung. Aber Newtons Berechnungen sind deshalb nicht v\u00f6llig unbrauchbar. Denn bei der Apollo-Mission hat man die Newton-Gleichungen verwendet, weil sie einfacher sind und f\u00fcr diese Anwendung v\u00f6llig ausreichend waren. <\/p>\n\n\n\n

Das Geozentrisches Weltbild ist l\u00e4ngst widerlegt, gen\u00fcgt aber v\u00f6llig f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis einer Sonnenuhr. Ebenso ist die Theorie der Flacherde in kleinen Dimensionen, also zum Beispiel f\u00fcr die Orientierung in einer Stadt v\u00f6llig ausreichend. <\/p>\n\n\n\n

Man sucht in der Wissenschaft nicht nach der absoluten Wahrheit, sondern nach Theorien, die f\u00fcr die jeweilige Anwendung n\u00fctzlich ist.<\/p>\n\n\n\n

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Nur mit den Naturwissenschaften k\u00f6nnen komplexe Aufgabenstellungen gel\u00f6st werden.<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

Wissenschaft als Werkzeug<\/h2>\n\n\n\n

Wissenschaft als Struktur. Wie passt eine konkrete Erkenntnis zu den bestehenden Wissen. In der Esoterik gibt es unzusammenh\u00e4ngende Glaubensinhalte. <\/p>\n\n\n\n

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Wissenschaft hat Struktur, Esoterik hat Einzelmeindungen.<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

In der Wissenschaft h\u00e4ngt alles zusammen. Sie bildet ein Netz von Theorien, die einander bedingen. Auch wenn sich etwas als falsch herausstellt, bricht das Geb\u00e4ude der Wissenschaften deshalb nicht zusammen.<\/p>\n\n\n\n

Auch wenn eine Untersuchung ergibt, dass es eine Krankheitsh\u00e4ufung durch Funkwellen gibt, muss man dieses Ergebnis in das bestehende Wissen einbetten. Man muss bei allen fremdfinanzierten Studien die Interessenslage mitdenken. <\/p>\n\n\n\n

Staatlich finanzierte Universit\u00e4ten haben eine gr\u00f6\u00dfere Unabh\u00e4ngigkeit. Aber der Standpunkt, dass alle Studien gekauft seien, ist auch nicht richtig. <\/p>\n\n\n\n

Wissenschaft ist nichts, was jemand alleine macht. Er ist immer eingebettet in ein Netzwerk. Es ist ein Art kollektives Wissen, das von einem Einzelnen nicht verarbeitet werden kann. Das Heben von Intelligenz auf eine h\u00f6here Ebene. Wir arbeiten kollektiv an Erkenntnissen, die in ihrer Summe gr\u00f6\u00dfer sind als <\/p>\n\n\n\n

Wo Wissenschaft nicht gilt<\/h2>\n\n\n\n

Es gibt Bereiche, f\u00fcr die Wissenschaft nicht zust\u00e4ndig ist, also etwa bei Fu\u00dfballspielen*) oder bei Familienfesten.<\/p>\n\n\n\n

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Wissenschaft und Demokratie<\/h2>\n\n\n\n

Welche Argumente akzeptieren wir f\u00fcr eine Entscheidungsfindung? Wissenschaftlich belegbare Ergebnisse sind eine gute Grundlage f\u00fcr kollektive demokratische Entscheidungsprozesse. <\/p>\n\n\n\n

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[Ist es nicht bemerkenswert, dass Versuche zum Aushebeln demokratischer Strukturen einher gehen mit der Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse? Ist es nicht bemerkenswert, dass Demokratie so wie die Wissenschaft sich der Falsifizierbarkeit als Methode zur Glaubensfindung unterwerfen muss? Wissenschaftlich fundierte Behauptungen unterliegen – anders als religi\u00f6se Behauptungen – einem evolutorischen Selektionsprozess, der uns lehrt, welche dieser Behauptungen wahr und welche falsch sind. ]<\/em><\/p>\n\n\n\n

Deshalb hat die Wissenschaft gerade in Zeiten von Donald Trump und Fake-News eine besondere Bedeutung.<\/p>\n\n\n\n

Wissenschaftsvermittlung<\/h2>\n\n\n\n

In der Zeit meines Studiums erfolgte gerade der \u00dcbergang vom Rechenschieber zum Taschenrechner, gab es die Euphorie der Mondlandung, es gab die ersten Mikrocontroller. An eine Wissenschaftsskepsis in der heute erlebten Intensit\u00e4t kann ich mich nicht erinnern. Fast als eine Art Reaktion auf die Pseudowissenschaften erleben heute in Form von didaktisch begabten Wissenschaftserkl\u00e4rern wie eben Florian Aigner<\/strong> oder Florian Freistetter<\/strong> und das gesamte Team der Science Busters eine sehr interessante Gegenbewegung, in der die wahrlich komplexe Welt der Wissenschaft in einer vergn\u00fcglichen und damit f\u00fcr alle vertr\u00e4glichen Form vermittelt wird. <\/p>\n\n\n\n

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Wir bedanken und bei Florian Aigner<\/strong> f\u00fcr seine anschauliche Erkl\u00e4rung der Welt der Wissenschaft und freuen uns schon auf seinen n\u00e4chsten Vortrag!<\/em><\/p>\n\n\n\n

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Florian Aigner<\/figcaption><\/figure><\/div>\n\n\n\n

Florian Aigner<\/h2>\n\n\n\n